Von Christian F. Hirsch
Geopolitik war lange eine Disziplin für Think Tanks, Diplomaten oder Militärstrategen. Doch die tektonischen Verschiebungen in der Weltordnung, die zunehmende Komplexität internationaler Konflikte und die globalen Verwerfungen in Lieferketten, Energieversorgung und Sicherheit haben eine neue Realität geschaffen: Geopolitik ist zu einem strategischen Faktor für Unternehmen geworden. Und mit dieser Entwicklung wächst die Verantwortung der Personalabteilungen. Denn wer, wenn nicht HR, trägt die Verantwortung dafür, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – vor allem Führungskräfte – die nötige geopolitische Urteilsfähigkeit entwickeln?
Top-Manager müssen heute weit über Bilanzen, Märkte und Organisationsstrukturen hinausdenken. Entscheidungen über Investitionen, Partnerschaften, Standorte oder sogar Kommunikationsstrategien sind unmittelbar von geopolitischen Dynamiken betroffen: Sanktionen, Cyberkonflikte, territoriale Spannungen oder die Entstehung neuer Allianzen beeinflussen die Geschäftsumgebung. Geopolitisches Verständnis ist deshalb kein „Nice to have“ mehr, sondern eine Führungsressource. Sie ist vergleichbar mit finanziellem oder technologischem Know-how. Wer geopolitische Risiken nicht erkennt, läuft Gefahr, in Krisen blind zu handeln oder Chancen nicht zu nutzen.
Wie eng die Verbindung zwischen Geopolitik und Unternehmensrealität inzwischen ist, zeigen drei aktuelle Fallbeispiele. Der russische Angriff auf die Ukraine etwa hat vor Augen geführt, wie schnell geopolitische Konflikte Geschäftsmodelle erschüttern können. Unternehmen in Europa waren plötzlich mit explodierenden Energiepreisen, Lieferkettenabbrüchen und massiven Sanktionspaketen konfrontiert. Viele Firmen mussten kurzfristig ihre Russland-Strategie aufgeben – mit gravierenden Folgen für Märkte, Beschäftigung und Reputation. Für HR bedeutete das: Evakuierungs- und Relocation-Pläne für Mitarbeiter in Krisenregionen mussten umgesetzt, psychologische Unterstützungsangebote für betroffene Teams organisiert und Führungskräfte durch Szenario-Trainings befähigt werden, politische Entscheidungen wie Sanktionen in konkrete Unternehmensstrategien zu übersetzen.
Noch gravierender wären die Folgen eines möglichen Konflikts zwischen China und Taiwan. Taiwan ist das Zentrum der weltweiten Halbleiterproduktion, und ein Ausfall hätte unmittelbare Konsequenzen für nahezu jede Industrie – vom Automobilbau bis zur Medizintechnik. Für Unternehmen hieße das: Produktionsstopps, Innovationskrisen und neue Abhängigkeiten. Auch hier spielt HR eine zentrale Rolle. Frühzeitige Upskilling-Programme können Mitarbeiter für alternative Technologien oder Produktionsmethoden qualifizieren, global vernetzte Remote-Teams können kurzfristig Aufgaben übernehmen, und Führungskräfte müssen befähigt werden, Belegschaften in solchen Szenarien transparent, glaubwürdig und beruhigend zu informieren.
Auch die eskalierenden Konflikte im Nahen Osten verdeutlichen die Fragilität globaler Energie- und Handelsströme. Blockierte Seewege wie im Roten Meer oder sprunghaft steigende Ölpreise treffen Unternehmen unmittelbar. Für HR ergeben sich daraus Aufgaben, die weit über administrative Routinen hinausgehen: Travel Risk Management für Geschäftsreisen in Risikogebiete, Kontingenzpläne für Standortschließungen oder Evakuierungen sowie interkulturelle Sensibilisierungsprogramme, damit internationale Teams auch unter geopolitischem Druck effektiv und respektvoll zusammenarbeiten können.
Gerade vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass HR sich nicht auf die Rolle des Verwalters von Personalakten und Rekrutierungsprozessen beschränken darf. Im besten Fall versteht sich HR als strategischer Partner der Unternehmensführung – und genau hier setzt die geopolitische Dimension im Sinne von Geopolitical Training and Development an. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten Grundwissen über geopolitische Entwicklungen erhalten, die das Unternehmen betreffen, sei es durch interne Briefings, digitale Lernformate oder Sensibilisierungs-Workshops. Führungskräfte wiederum brauchen spezifische Trainings, die geopolitische Szenarien durchspielen, die Risikowahrnehmung schärfen und die Fähigkeit fördern, geopolitische Signale in strategische Entscheidungen einzubeziehen. Geopolitische Kompetenz sollte darüber hinaus auch zu einem festen Kriterium im Talent- und Nachfolgemanagement werden. Wer das Unternehmen in unsicheren Zeiten steuert, muss diese Dimension beherrschen.
Unternehmen, die ihre Führungskräfte gezielt auf geopolitische Herausforderungen vorbereiten, verschaffen sich dadurch einen klaren Wettbewerbsvorteil. Sie werden resilienter, treffen informiertere Entscheidungen und können in Krisen schneller und souveräner reagieren. Gleichzeitig entsteht eine Unternehmenskultur, die Unsicherheiten nicht verdrängt, sondern konstruktiv verarbeitet. Für HR bedeutet das: Wer Geopolitical Training and Development heute konsequent in die eigene Agenda integriert, macht das Unternehmen fit für eine Zukunft, die nicht weniger komplex, sondern immer unberechenbarer wird.
Geopolitik gehört nicht mehr nur in die Außenpolitik oder die Schlagzeilen internationaler Medien. Sie gehört in die Boardrooms von Unternehmen – und damit natürlich auch in das Verantwortungsfeld von Personalchefs. HR wird zur Schaltstelle für eine Kompetenz, die im 21. Jahrhundert über den langfristigen Erfolg entscheidet: geopolitisches Wissen als integraler Bestandteil von Führung.