Von Boris van Thiel
Neulich wurde ich eingeladen, einen Gastvortrag zum Thema Führung an der University of Europe in Berlin zu halten. In Zeiten geopolitischer Turbulenzen ist das zweifellos ein hochaktuelles Thema. Für viele Studierende stellt sich dabei die zentrale Frage: Gibt es den einen richtigen Führungsstil, der immer funktioniert?
Eine nachvollziehbare Frage. Aber eine, auf die es keine allgemeingültige Antwort gibt. Und das nicht etwa, weil es an Theorien oder Konzepten mangelt. Im Gegenteil: Die Literatur zur Führungslehre ist umfangreicher denn je. Doch in der Praxis zeigt sich, dass Führung kein statisches Modell mehr ist, sondern ein dynamisches Zusammenspiel unterschiedlicher Stilmittel, die situativ angepasst werden müssen. Erfolgreiche Unternehmenslenkerinnen und -lenker agieren heute agil, flexibel und mit einem hohen Maß an Anpassungsfähigkeit. Und das immer im Bewusstsein, dass sich die Rahmenbedingungen permanent verändern.
Ein zentraler Faktor dabei sind die Menschen selbst. Führungskräfte sehen sich zunehmend mit Teams konfrontiert, die durch eine hohe Inhomogenität geprägt sind: unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen, Werte, Kommunikationsstile und Erwartungen treffen aufeinander. Was früher als Schwäche galt, ist heute Normalität. Eine Führungskraft, die dieser Vielfalt gerecht werden will, braucht vor allem eines: Kontextverständnis.
Doch Führung findet nie im luftleeren Raum statt. Jede Organisation ist in ein internes und externes Ökosystem mit zahlreichen Stakeholdern, Interessen und Abhängigkeiten eingebettet. Je nach Situation und Einfluss dieser Akteure muss der Führungsstil angepasst werden. So funktionieren beispielsweise autokratische Führungsansätze, obwohl sie nicht mehr als zeitgemäß gelten, in bestimmten Umfeldern nach wie vor erstaunlich gut. So etwa in einem klassischen Arbeitgebermarkt, in dem Mitarbeitende nur begrenzte Wechselmöglichkeiten haben.
In einem Arbeitnehmermarkt hingegen, in dem qualifizierte Fachkräfte die Wahl haben, greifen diese Modelle kaum noch. Fehlende Wertschätzung, eingeschränkte Autonomie und mangelndes Vertrauen führen dort viel schneller zur inneren oder tatsächlichen Kündigung. Interessanterweise spielt Geld dabei oft nur eine Nebenrolle. Viel entscheidender sind Sinn, Entwicklungsperspektive und die Qualität der Beziehung zur Führungskraft.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: die Entwicklungsstufe des Unternehmens. Ein junges Start-up verlangt nach anderen Führungsqualitäten als ein international etablierter Konzern. Während Start-ups oft von visionären, unkonventionellen und schnellen Entscheidungen leben, erfordert der Konzernkontext eher Struktur, Prozesssicherheit und die Fähigkeit, komplexe Interessen zu integrieren.
Diese Beispiele verdeutlichen das Dilemma moderner Führung: Es gibt nicht den Führungsstil, der universell funktioniert. Es ist daher wenig hilfreich, Stile nach Etiketten wie „modern“ oder „altmodisch“ zu bewerten. Entscheidend ist vielmehr das Fähigkeitsportfolio der Führungspersönlichkeit.
Was muss also eine moderne Führungskraft können? Zunächst einmal Kontextintelligenz. Das ist die Fähigkeit, Situationen richtig zu lesen und den eigenen Stil flexibel anzupassen. Hinzu kommt Empathie, um Menschen zu verstehen und Vertrauen aufzubauen. Ebenso wichtig sind Entscheidungsfreude und Verantwortungsbewusstsein, insbesondere in unsicheren oder widersprüchlichen Situationen. Eine gute Führungskraft muss sich selbst reflektieren können, Orientierung geben, wo Strukturen fehlen, und Freiräume schaffen, wo Kreativität gefragt ist.
In einer zunehmend global vernetzten Welt gehören auch interkulturelle Sensibilität und geopolitisches Bewusstsein zum Handwerkszeug moderner Führung. Denn wirtschaftliche Entscheidungen sind längst nicht mehr isoliert von politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten. Schließlich braucht Führung heute mehr denn je Resilienz und Ambiguitätstoleranz. Das ist die Fähigkeit, mit Unsicherheit, Widersprüchen und Krisen umzugehen, ohne die innere Stabilität zu verlieren.
Führung bedeutet daher nicht, Kontrolle auszuüben oder Macht zu sichern, sondern Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Menschen ihr Potenzial entfalten können. Es geht um Balance zwischen Vertrauen und Kontrolle, Freiheit und Verantwortung, Stabilität und Wandel. In dieser Balance liegt die eigentliche Kunst moderner Führung.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Führung hat viele Gesichter und wird stets durch zwei Faktoren bestimmt: den Charakter der Führungskraft und das Führungsumfeld, in dem sie agiert. Wer Führung als statisches Instrument versteht, wird auf lange Sicht nicht erfolgreich sein. Zwar hat jede Persönlichkeit bestimmte dominante Ausprägungen, die im Führungsstil sichtbar werden, doch Führung ist nichts Angeborenes. Sie lässt sich erlernen und gezielt weiterentwickeln.
Das habe ich in meiner eigenen Laufbahn immer wieder festgestellt. Mit zunehmender Lebenserfahrung wächst die Fähigkeit, in schwierigen Situationen gelassener zu reagieren und mit Augenmaß zu handeln. Was dagegen ausgedient hat, sind autokratische oder patriarchalische Führungsmodelle, deren Vertreter sich aufgrund ihrer Machtposition den Luxus des Nicht-Lernens leisten. In einer Welt, die von Wandel, Unsicherheit und Komplexität geprägt ist, kann sich niemand diesen Luxus mehr erlauben. Schon gar nicht in der Führung.