Von Boris van Thiel
Vergangene Woche fühlte ich mich wie auf einer Zeitreise. Gemeinsam mit Christian F. Hirsch, meinem Schulfreund und Mitinitiator dieses Blogs, war ich in Hamburg zur 58. sicherheitspolitischen Informationstagung der Clausewitz-Gesellschaft unterwegs. Unter dem Motto „Kriegsbilder der Zukunft“ informierten wir uns über aktuelle Entwicklungen in der militärischen Verteidigung Deutschlands im Kontext der NATO. Eine Zeitreise deshalb, weil solche Veranstaltungen traditionell in Kasernen stattfinden und mich an meine eigene Dienstzeit erinnerten. Allerdings mit dem Unterschied, dass die Tagung in der Führungsakademie der Bundeswehr stattfand, die eher den Charakter einer Universität als den eines klassischen Truppenstandorts hat.
Nicht nur dort, sondern aktuell vielerorts wird über den Aufbau einer gesamtstaatlichen Verteidigung diskutiert. Spätestens seitdem der Bundestag die Schuldenbremse gelockert und ein Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro bis 2036 freigegeben hat, ist das Thema allgegenwärtig. Die Bundesregierung verbindet mit diesen kreditfinanzierten Mitteln zwei Erwartungen: einerseits den Aufbau und die Rehabilitierung von Infrastruktur zur Stärkung der Resilienz der Bundesrepublik, andererseits die Ankurbelung der deutschen Wirtschaft, um wieder Wachstumsraten zu erzielen. Im Klartext bedeutet das, dass viel Geld direkt und indirekt für militärische Zwecke ausgegeben werden soll. Entsprechend hoffen viele Unternehmen, die bislang keinen Bezug zur Rüstungs- oder Verteidigungsindustrie hatten, nun auf volle Auftragsbücher.
Dies ist nachvollziehbar, da traditionelle deutsche Kernbranchen wie der Anlagenbau oder die Automobilindustrie aktuell schwächeln und nach Alternativen suchen. Im Falle des Automobilsektors gibt es durchaus Synergien, denn die Rüstungsindustrie steht vor der Herausforderung, von manufakturähnlichen Prozessen auf serielle Großproduktion umzuschalten. Hier kann die Automobilindustrie mit Erfahrung und teilweise obsoleten Produktionslinien aushelfen. Auch bei sogenannten Dual-Use-Gütern zeigen sich Möglichkeiten, zivile Produkte mit leichten Anpassungen militärisch zu nutzen. Drohnen sind ein prominentes Beispiel: Erst durch den zivilen Boom erschwinglicher Drohnen wurde ihr militärisches Potenzial im Ukraine-Konflikt in vollem Umfang sichtbar.
Herausforderungen bestehen jedoch vor allem in den vertraglichen Fallstricken – Stichwort Vorsorgeklausel – sowie in den oft zeitintensiven Sicherheitsüberprüfungen nach dem Sicherheitsüberprüfungsgesetz (SÜG), die für viele Dienstleistungen oder Lieferungen erforderlich sind. Die jeweiligen Freigabestufen Ü1 bis Ü3 sind komplex und stellen insbesondere den deutschen Mittelstand vor große Hürden.
Hinzu kommt, dass die Rüstungsindustrie von einer eigenen, stark abgeschlossenen Kultur geprägt ist. Man vertraut auf alte Seilschaften, Informationen werden zurückhaltend geteilt, und jeder Neuling wird genau geprüft. Start-ups sind eher unerwünscht. Für Unternehmen bedeutet das, dass der Zugang Zeit, Geduld und eine gewisse „militärische DNA“ in der eigenen Unternehmenskultur erfordert. Wer diesen Schritt geht, muss sich außerdem bewusst sein, dass er sich dauerhaft in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld bewegt, da das Thema Rüstung auch emotional und politisch sensibel bleibt.
Vor diesem Hintergrund eignet sich der Eintritt in die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie nicht als kurzfristiger Rettungsanker für schwächelnde Märkte. Aufwand und Risiken stehen in keinem Verhältnis zum Nutzen. Gleichzeitig ist aber nicht zu übersehen, dass die Zeitenwende einen Paradigmenwechsel eingeläutet hat. Die europäische Industrie wird künftig mehr technische Lösungen gemeinschaftlich entwickeln, und der bis 2036 gesetzte Zeithorizont ist solide. Jüngste politische Initiativen, etwa die Vertiefung der deutsch-französischen Partnerschaft durch Macron und Merz, zeigen, dass die sicherheits- und verteidigungsindustrielle Zusammenarbeit auf eine neue Ebene gehoben wird.
Die Branche wird in Zukunft vermutlich mehr gesellschaftliche Akzeptanz finden und weiterwachsen, wie nicht zuletzt die Entwicklung von Rheinmetall in den letzten zwölf Monaten verdeutlicht. Dennoch sollten Unternehmenslenker nicht blauäugig in das Abenteuer Rüstung einsteigen. Gerade mittelständische Firmen ohne finanzstarken Unterbau können schnell an ihre Grenzen geraten, ganz abgesehen von den möglichen Auswirkungen auf die Reputation. Mein Besuch in der Clausewitz-Kaserne hat mir jedenfalls gezeigt, dass die zivil-militärische Zusammenarbeit bereits funktioniert und die Herausforderungen zur Herstellung der gesamtstaatlichen Verteidigungsfähigkeit identifiziert sind. An Konzepten zur Beschleunigung und Vereinfachung dieser Kooperation wird bereits gearbeitet. Für die deutsche Wirtschaft bietet die Rüstungsindustrie damit zwar interessante Perspektiven, aber keinen schnellen Rettungsanker.