Brauchen wir den homo conservans?

Von Boris van Thiel

Fast jeder kennt ihn: den rationalen Nutzenmaximierer, den wirtschaftlichen Egoisten, der ausschließlich seine eigenen Bedürfnisse im Blick hat. Die ökonomische Theorie nennt ihn den homo oeconomicus, ein Konzept, das seinen Ursprung in der Zeit der liberalen Aufklärung hat und im 19. Jahrhundert weiterentwickelt wurde. Schon damals ging es darum, menschliches Handeln mathematisch und rational zu erklären. Und das vor allem im Kontext von Märkten und individuellen Entscheidungen.

Typische Vertreter dieses Typs sind Unternehmer, die kurzfristige Gewinnmitnahmen langfristigen, strategisch angelegten Programmen vorziehen. Sie sind risikobereit, wägen aber sehr genau die Vor- und Nachteile einer Transaktion ab. Oft sind sie damit sogar sehr erfolgreich – allerdings auf Kosten anderer Stakeholder. Kein Wunder also, dass dieser Typus in der Gesellschaft nicht selten kritisch beäugt wird.

In Zeiten der Friedensdividende und des Wirtschaftswunders funktionierte dieses Modell erstaunlich gut. Die globale Ordnung war stabil, Krisen blieben punktuell und beherrschbar. Für das ökonomische Denken bedeutete das: Verlässlichkeit, Planbarkeit, kontinuierliches Wachstum. Doch diese Zeiten sind vorbei.

In den letzten 20 Jahren hat sich die Welt massiv verändert. Die Finanzkrise von 2008/2009 hat uns die fatale Abhängigkeit von Banken und einem deregulierten Finanzsystem schmerzhaft vor Augen geführt. Die letzte große Ölkrise von 2020 – als der Ölpreis kurzzeitig sogar ins Negative rutschte – zeigte, wie fragil der Rohstoffmarkt in einer global vernetzten Wirtschaft sein kann. Und dann kam die Corona-Pandemie, ein weltweiter Schock, der Lieferketten, Gesundheitssysteme und Geschäftsmodelle gleichzeitig an ihre Grenzen brachte.

Heute stehen wir am Rande einer geopolitischen Zeitenwende. Die unipolare Weltordnung nach dem Zusammenbruch der UdSSR wird zunehmend von einer multipolaren Struktur abgelöst. Und das mit allen chaotischen Nebeneffekten, die damit einhergehen: Handelskriege, Rohstoffkonflikte, Sanktionen, Sicherheitsdilemmata.

In dieser neuen Realität wirkt das alte Modell des homo oeconomicus zunehmend überfordert. Die klassischen Regeln der Ökonomie mit Angebot und Nachfrage, Wettbewerb, Preisbildung geraten unter Druck, wenn staatliche Akteure gezielt in Märkte eingreifen, Infrastruktur zur Waffe wird oder ganze Lieferketten durch politische Konflikte neu bewertet werden müssen.

Der homo oeconomicus verliert seinen inneren Kompass. Viele Unternehmen bleiben auf der Strecke. Es ist der Moment, in dem ein neues Modell an Bedeutung gewinnt: der geo oeconomicus.

Der geo oeconomicus ist ein strategisch handelnder Akteur, der wirtschaftliche Maßnahmen als Mittel zur Machtprojektion nutzt. Er denkt nicht nur in Märkten, sondern in geopolitischen Räumen. Nicht nur in Preisen, sondern in Einflusszonen. Rohstoffe, Transportkorridore, Technologiestandards. All das sind für ihn Werkzeuge, um geopolitische Ziele zu erreichen.

Donald Trump ist dafürr ein prominentes Beispiel. Er hat als Präsident der USA exemplarisch gezeigt, wie Zölle, Sanktionen und einseitige Handelsmaßnahmen gezielt zur Durchsetzung nationaler Interessen eingesetzt werden können. Für ihn war Wirtschaft nicht primär ein Ort des Austauschs, sondern ein Schlachtfeld. Ganz im Sinne des geo oeconomicus.

Doch auch dieses Modell reicht heute nicht mehr aus. Der geo oeconomicus klassischer Prägung ist ein Akteur aus der Zeit des Nationalstaats. In einer zunehmend digitalen, vernetzten, klimatisch instabilen und sicherheitspolitisch fragmentierten Welt braucht es einen nicht nur ein neues Modell des homo oeconomicus. Es braucht auch einen geo oeconomivus 2.0. Nennen wir ihn den homo conservans, den Bewahrer der Nachhaltigkeit.

Er denkt systemisch, vernetzt wirtschaftliche, sicherheitspolitische und ökologische Faktoren. Er agiert resilient, nicht nur auf kurzfristige Machtgewinne ausgerichtet, sondern auf strategische Überlebensfähigkeit. Er handelt kooperativ, wo nötig, weil er erkennt, dass Machtprojektion heute nicht mehr allein mit Druck funktioniert, sondern auch mit Bündnissen, Technologieabkommen und wechselseitiger Abhängigkeit. Und er bleibt sich der Grenzen des Wachstums bewusst. Und das sowohl ökologisch als auch gesellschaftlich.

Der homo oeconomicus hat uns durch Jahrzehnte des Wachstums begleitet. Der geo oeconomicus hat uns gelehrt, dass Wirtschaft nicht neutral ist. Was wir jetzt brauchen, ist eine neue, reflektierte, verantwortliche Version davon: den homo conservans. Nicht nur als analytisches Modell. Sondern als real handelnden Akteur in einer Welt, die nicht auf den nächsten Quartalsbericht, sondern auf das nächste Jahrzehnt vorbereitet sein muss.

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