Von Boris van Thiel und Christian F. Hirsch
Schon als 16-Jährige haben wir zusammen Projekte gemacht. In Cloppenburg, unserer kleinen Provinzstadt im geopolitischen Nirgendwo in Niedersachsen. Jung, pickelig, den Kopf voller Flausen haben wir das gemacht, was man als Halbstarke ebenso so „unsere Projekte“ nennt.
Damals war die Welt noch in Ordnung. Als wir 1993 Abi machten, war der Kalte Krieg gerade vorbei. Das „Ende der Geschichte“, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama es ausdrückte, war gekommen. Die unipolare Welt dämmerte am Horizont. Am 1. Juli 1993 wurden wir beide heimatnah in die neue Bundeswehr der Auslandseinsätze eingezogen.
Unsere „beruflichen“ Wege trennten sich danach. Der eine studierte Geographie, wurde Manager, ging in den Mittleren Osten, machte als Unternehmenslenker Karriere. Der andere studierte Kulturwissenschaften, ging in die Unternehmenskommunikation, wurde Pressesprecher, Krisenmanager, Politikberater für Unternehmen.
Beide einte uns weiterhin unser Interesse an den Geschehnissen und Geschicken der Welt. Genauer: Unser Faible für Geopolitik. Das ist für uns: Die Auseinandersetzung mit dem Einfluss geografischer, wirtschaftlicher, kultureller und politischer Faktoren auf das internationale Machtgefüge, in dem Staaten und Akteure ihre Interessen durchsetzen, um Macht zu sichern, auszuweiten oder zu begrenzen.
Auf der Basis unserer jahrzehntelangen Freundschaft, aus der gemeinsamen Erkenntnis heraus, dass nicht nur der deutsche Staat, sondern auch die deutschen Unternehmen von der Renaissance der Geopolitik geradezu überrollt werden, und getragen von der Überzeugung, die geopolitischen Herausforderungen gestalten zu wollen, statt sich von ihnen treiben zu lassen, starten wir heute ein neues gemeinsames Projekt: unseren geopolitischen Fachblog „Boardroom Geopolitics“.
Wir sind keine Halbstarken mehr, sondern abgefeimte Business Professionals in ihren Fünfzigern mit jeder Menge Erfahrung und Wissen und dem gemeinsamen beruflichen Steckenpferd der Geopolitik. Unser Reflexionswissen und unsere Praktikererfahrungen rund um Corporate Geopolitics oder unternehmensfokussierter Geopolitik wollen wir – jetzt wo Geopolitik plötzlich so en vogue und gefragt ist – mit unserem Blog weitergeben: an Geopolitik-Interessierte, an Wissenschaftler, an Staatsverwaltungsleute und Politiker.
Vor allem aber wollen wir mit unserem Blog Wirtschaftsführern, Unternehmenslenkern und Führungskräften der Corporate World, die jeden Tag mit den neuen geopolitischen Herausforderungen konfrontiert werden, Denkansätze und Praktikerhilfe anbieten. Deshalb der Name des Blogs: „Boardroom Geopolitics“.
Uns geht es nicht um die Geopolitik, die in Thinktanks betrieben wird und die derzeit die geopolitischen Diskurse in Deutschland auf einem sehr abstrakten, abgehobenen, nicht wirklich wirtschaftsfokussierten Niveau dominieren. Es geht uns auch nicht um die Geopolitik, die von Militärs, Diplomaten, Politikern und Professoren betrieben wird. Jener Geopolitik, die die Staaten als Akteure in den Vordergrund stellt.
Uns geht es um die Geopolitik, die den Sitzungszimmern von Unternehmensvorständen, in Führungszirkeln von Konzernen und mittelständischen Unternehmen, in den Konferenzräumen der C-Suiten und in den Top-Management-Runden der deutschen Wirtschaft betrieben wird. Corporate Geopolitics ist die Geopolitik, die an den Orten von zentraler Wirtschaftsmacht und strategischer Unternehmensentscheidung zukünftig vermehrt betrieben werden muss: in den Boardrooms.
Wir hoffen aber auch jene Menschen als Leser, als Kommentatoren, als Kritiker oder vielleicht sogar als Mitautoren zu erreichen, die die geopolitischen Entscheidungen in den Boardrooms vorbereiten, kommunizieren, umsetzen: die konzerninternen geopolitischen Analysten, die geopolitischen Szenarienplaner, die geopolitikorientierten Unternehmenskommunikatoren, die externen Geopolitikberater, Consultants, Advisors.
Mit unserem Blog wollen wir uns an den geopolitischen Diskursen in unserem Land beteiligen. Wir hoffen sogar, sie mitvorantreiben zu können. Auf jeden Fall wollen wir an der Institutionalisierung, Systematisierung, Standardisierung und auch Weiterentwicklung der Corporate Geopolitics mitwirken.
Für uns ist Corporate Geopolitics die strategische Auseinandersetzung von Unternehmen mit geopolitischen Dynamiken, also mit politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und technologischen Kräften, die aus dem internationalen Umfeld auf Geschäftsmodelle, Lieferketten, Wertschöpfung, Reputation und Handlungsfähigkeit wirken.
Corporate Geopolitics verbindet für uns klassische Geopolitikanalyse, zu der Machtverschiebungen, Konfliktlagen, Ressourcenverteilung und normative Ordnungen gehören, mit unternehmensstrategischen Perspektiven. Unternehmensfokussierte Geopolitik zielt darauf, die Resilienz, Wettbewerbsfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit von Unternehmen im Spannungsfeld globaler Interessen durch vorausschauendes Management, Kommunikation und Anpassung der Wertschöpfungsketten zu sichern.
Uns geht es dabei um ein ganzes Kaleidoskop von Dimensionen der Unternehmensgeopolitik, wie sie Wirtschaftslenker und ihre geopolitischen Subject Matter Experts heute unserer Meinung nach betreiben sollten: geostrategische Frühaufklärung und Szenarienarbeit, Risikomanagement und Resilienz, Wertschöpfung im geopolitischen Kontext, geopolitikorientierte Kommunikation und Positionierung sowie Entscheidungskompetenz und Governance.
Neben Institutionalisierung, Systematisierung, Standardisierung und auch Weiterentwicklung der Corporate Geopolitics hat dieser Blog noch ein weiteres Ziel: Wir möchten einen Beitrag zu einer Verfachlichung des Feldes und zu einer Verberuflichung der Corporate Geopolitical Professionals sein. Das sind jene Fach- und Führungskräfte in Unternehmen, Beratungen oder Verbänden, die sich systematisch mit den politischen, wirtschaftlichen, technologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kräften im internationalen Umfeld befassen, um daraus strategisch relevante Erkenntnisse, Risikobewertungen und Handlungsoptionen für Organisationen abzuleiten.
Eine Professionalisierung des Feldes ist unbedingt nötig. Derzeit wird Corporate Geopolitics nämlich noch hauptsächlich dominiert von den Geopolitikexperten in Thinktanks und Universitäten, des Militärs und der Politik. Die aber sind oft weit entfernt von den Denklogiken der Wirtschaft. Sie denken und handeln in den Funktionslogiken von Wissenschaft, vom Militär und der Politik. Darin wurden sie sozialisiert, da hinein wurden sie enkulturiert, die haben sie internalisiert.
Was die Wirtschaft aber gerade jetzt vor allem braucht, sind Geopolitikexperten, die neben geopolitischer Fachkompetenz das Denken und Agieren von Unternehmen kennen und verinnerlicht haben. Denn: Corporate Geopolitics ist die Kunst und Disziplin, geopolitische Kräfte als strategische Treiber unternehmerischer Entscheidungen zu verstehen, daraus Wettbewerbsvorteile und Resilienz zu entwickeln und die eigene Position im globalen Machtgefüge aktiv zu gestalten. Darum soll es in unserem Fachblog „Boardroom Politics“ gehen. Von heute an jeden Donnerstag mit einem Fachbeitrag von uns zur unternehmensfokussierten Geopolitik.